Große Kinderaugen

Kinder

Ich habe keine Kinder.

Im zarten Alter von 19 Jahren bin ich schwanger gewesen. Diese Schwangerschaft endete im 5. Monat in einer Fehlgeburt, die zu den schrecklichsten Erlebnissen meines Lebens gehört. Es war an einem Wochenende, als die Wehen einsetzten und der diensthabende Gynäkologe der Klinik, ein Araber, nahm irrtümlich an, ich als unverheiratete Frau habe einen Abtreibungsversuch unternommen. Dementsprechend verächtlich behandelte er mich und das übrige Klinikpersonal war ebenfalls nicht besonders erbaut von diesem Zwischenfall, der die sonntägliche Ruhe der Klinik unterbrach. Ohne auf die grausamen Details der Entbindung näher einzugehen, kann ich nur sagen, dass ich Todesangst litt und vor Schmerzen und Panik schrie wie am Spieß. Der Kommentar der Hebamme war: Sie haben sich das eingebrockt, jetzt müssen sie es auch auslöffeln!

Als das tote, blau angelaufene Kind (es war ein Sohn) - mit den Füßen voraus - endlich geboren war, legte man es in einer Nierenschale auf eine Anrichte, knipste die Neonbeleuchtung des Kreißsaals aus und ließ mich mit dem Ergebnis meiner Sünde für den Rest der Nacht allein. Nie zuvor und auch nie wieder danach habe ich mich so elend gefühlt.

Jahre später wurde ich erneut ungewollt schwanger. Der Vater des Kindes, ein hochneurotischer Soziologiestudent, befand sich gerade in Amerika, um seine Lebensstrategie zu überdenken. Ich stellte ihn vor die Alternative, entweder zurückzukommen und das gemeinsame Kind auch gemeinsam großzuziehen oder - im Falle seiner Verweigerung - es abzutreiben. Er entschied sich fürs Fernbleiben und ich ging in die Abtreibungsklinik. Dort lief etwas schief. Aufgrund eines Knicks in der Gebärmutter hatte man zwar reichlich Gebärmutterschleimhaut, nicht aber die Fruchtblase mit dem Embryo abgesaugt. Das hartnäckige Baby war also noch am Leben und musste nun in einem erneuten Eingriff nochmals attackiert und endgültig beseitigt werden.

Im Alter von 32 Jahren ließ ich mich dann schließlich sterilisieren, weil mir die permanente Auseinandersetzung mit dem Thema Kinder oder nicht auf die Nerven ging und ich die Mühen der Empfängnisverhütung nicht länger auf mich nehmen wollte. So also bin ich kinderlos geblieben und jetzt, wo ich aus dem gebärfähigen Alter heraus bin, betrachte ich diese Kinderlosigkeit als einen Segen, denn sie erlaubt mir, ohne den Schatten elterlichen Verantwortungsgefühls und unmittelbarer Betroffenheit den Kindern unvoreingenommen und positiv zu begegnen.

Ich wäre bestimmt keine gute Mutter geworden. Mein Verhältnis zu Kindern gestaltet sich ähnlich wie mein Verhältnis zu Pferden: Beides sind wunderbare Geschöpfe, voller Schönheit, voller Anmut, voller Kraft und spielerischer Dynamik, die mich begeistern und mein Herz rühren und denen ich in Liebe zugeneigt bin. Aber ich traue mir nicht zu, sie zu bändigen, weder das Kind noch das Pferd so zu erziehen, dass sie funktionieren, wie ich als Erwachsener das für richtig halte und haben will.

Die Konflikte und Reibungsverluste, die im Erziehungsprozess auftreten, wollen bewältigt und seelisch verarbeitet werden. Das erfordert große mentale und psychische Anstrengungen, die alle Beteiligten oft genug an die Grenzen ihrer Möglichkeiten bringen. Jedoch liegen in diesem Prozess des Sich aneinander Reibens nicht nur für den Zögling, sondern auch für den Erzieher enorme Wachstumschancen und wenn es gut läuft, ist das Endergebnis eine glückliche Familie mit stolzen Eltern und wohlgeratenen Kindern.

Indessen läuft es immer seltener gut. In unserer spätkapitalistischen Wohlstandsgesellschaft, deren Kinderfeindlichkeit sich in einem deutlichen Rückgang der Geburtenrate wiederspiegelt, ist weder Zeit noch Raum für eine artgerechte Kinderhaltung. Der Zerfall sozialer Strukturen macht auch vor der bürgerlichen Kleinfamilie nicht Halt: nur noch ein Bruchteil aller Kinder wachsen mit Vater und Mutter gemeinsam auf und kommen in den Genuss einer natürlichen Sozialisation mit väterlichen und mütterlichen Vorbildern. Dieser elementare Mangel, diese Störung in der natürlichen Ordnung hat weitreichende Folgen für die gesamte Entwicklung des Kindes und bringt mannigfache Störungen und Defizite in körperlicher, seelischer und geistiger Hinsicht hervor.

Es ist erstaunlich festzustellen, wie anpassungsfähig die kindliche Seele mit dem Verlust von familiärer Geborgenheit und Unterstützung umzugehen versteht, welche Ausweichmanöver sie erfindet und wie heil sie trotz der desolaten Beziehungsmuster der Eltern noch lange bleiben kann. Ihr Anpassungsvermögen und ihre Selbstheilungskraft sind jedoch nicht unbegrenzt strapazierbar und spätestens mit dem Eintritt in den Kindergarten oder die Grundschule werden Fehlentwicklungen offenbar.

Kinder werden von Natur aus in einem unschuldigen Zustand und mit reinem Herzen geboren. Man braucht nur unvoreingenommen und aufmerksam in die ausdrucksvollen Augen eines Säuglings zu blicken, um das hohe Niveau dieser beiden Eigenschaften intuitiv zu erfassen. Ein kleines Kind zu betrachten, es im Spiel zu beobachten oder gar mit ihm zu kommunizieren, rührt jeden normalen Erwachsenen an und öffnet sein Herz. In einem Kind brennt das Lebenslicht, das Seelenfeuer noch hell und rein, es ist ganz und gar bereit zu vertrauen und sich ohne Wenn und Aber auf die Welt einzulassen, die zu vertreten Aufgabe und gleichzeitig Privileg des Erwachsenen ist.

Nicht ohne Grund haben die Kinder in der christlichen Religion einen hohen Stellenwert. In der Bibel sagt Jesus an einer Stelle: Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solcher ist das Reich Gottes. Weiter heißt es: Wahrlich ich sage euch: wer nicht das Reich Gottes annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen. (Markus 10, 13-16)

Das ist deutlich. Es besagt, dass eine intellektuelle Annäherung an das Göttliche, dass der Versuch, Gott mit den mentalen Möglichkeiten eines Erwachsenen begreifen zu wollen, scheitern muss. Die Botschaft Gottes kann nur mit dem grenzenlosen Vertrauen eines Kindes empfangen und aufgenommen werden. Und nur ein reines Herz bietet eine geeignete Wohnstatt für den göttlichen Geist, der von diesem Sitz aus die gesamte Persönlichkeit durchfluten und beseelen kann. In diesem Zusammenhang kommt mir ein Gutenachtgedicht in den Sinn, zu dessen täglichem Gebrauch ich als Kind angehalten worden bin:

Ich bin klein
Mein Herz ist rein
Soll niemand drin wohnen
Als Jesus allein.

Heutzutage wird kaum mehr gebetet. Es werden auch selten noch Märchen vorgelesen, in denen die spirituellen Geheimnisse der Menschheit auf kindgerechte Weise verschlüsselt wiedergegeben sind. Stattdessen wird das kindlich-reine Herz mit den Segnungen der westlichen Zivilisation zugemüllt. Harry Potter und Virtuelle Welten in Form von Computerspielen haben die zauberhafte Welt des klassischen Märchens ersetzt und der Favorit kindlicher Kommunikation ist die SMS-Botschaft per Handy. Die Erlebnismöglichkeiten eines Kindes, seine Gelegenheiten mit sich und anderen Erfahrungen zu machen, die seine natürliche Entwicklung fördern könnten, sind durch die gesellschaftlichen Vorgaben (z.B. fehlende Freiflächen für Sport und Spiel) stark eingeschränkt und in eine bestimmte Richtung vorbestimmt. Sehr früh wird der Umgang mit technischen Geräten (Gameboy, Handy, PC, Spielekonsolen etc.) erlernt, von denen eine starke Faszination ausgeht und deren Besitz allgemeiner Standard geworden ist. Das wichtige Element der Bewegung, der natürliche Bewegungsdrang eines Kindes, tritt zurück und macht einer unbewegten, sitzenden Haltung Platz; bei der vor allem die Augen und die mentale Konzentration beansprucht werden.

Bei Einschulungsuntersuchungen hat sich gezeigt, dass nur ein Bruchteil der Kinder über altersgerechte Fähigkeiten der körperlichen Koordination und Kraft verfügt und dass Haltungsanomalien und psychomotorische Störungen zunehmen, weil die sichere Beherrschung des Körpers nicht - wie natürlicherweise vorgesehen - im kindlichen Spielen und Rumtoben entwickelt worden ist. Das Desinteresse oder die Bequemlichkeit der Eltern erlauben es den Kindern, stundenlang vor dem Fernseher zu sitzen und sich Inhalte reinzuziehen, die weder für Kinder gemacht noch für diese geeignet sind. Während dieser passiven Beschäftigung werden dann in aller Regel - dem elterlichen Beispiel folgend - Unmengen von ungesunden Nahrungsmitteln wie Chips und Süßigkeiten konsumiert, was für die körperliche Gestalt des Kindes nicht ohne Folgen bleibt. Übergewicht im Kindesalter ist heute zu einem weit verbreiteten Phänomen und Problem geworden, das mit sozialer Ausgrenzung und gesundheitlichen Folgeerscheinungen (z.B. Diabetes) einhergeht.

Ohne ein Pauschalurteil fällen zu wollen, bleibt insgesamt festzustellen, dass die körperliche, seelische und geistige Verfassung der Kinder dem desolaten Zustand der allgemeinen Gesundheit der Bevölkerung in nichts nachsteht. Die Kinder sind die Spiegel der Erwachsenen und können keine Fähigkeiten und Talente entfalten, für die in der Erwachsenenwelt nur wenige Vorbilder vorhanden sind.

Prototypen einer heilen und reinen Kindlichkeit sind zum Beispiel Kinder und Erwachsene mit Down-Syndrom. Diese wertvollen, sonnigen Geschöpfe sterben immer mehr aus, da die vorgeburtliche Diagnostik die zweifelsfreie Feststellung des Chromosomenfehlers erlaubt und die meisten Mütter sich daraufhin entscheiden, ihr voraussichtlich behindertes Kind abzutreiben. Dabei ist das, was als ein Mangel, eine Behinderung erscheint, in Wirklichkeit eine besondere Begabung des Gemüts, fröhlich und glücklich zu sein.

Wie jeder betroffene Elternteil oder Erzieher bestätigen wird, sind Down-Syndrom Kinder vom Erzieherischen her in aller Regel pflegeleichte Kinder und leicht zu führen. Sie entwickeln sich wie normale Kinder auch, nur in einem langsameren Tempo und sie lernen bei entsprechender Förderung auch Lesen und Schreiben sowie Grundkenntnisse im Rechnen. Die Einschränkungen ihrer mentalen Fähigkeiten erreichen meist den Grad einer eher leichten geistigen Behinderung.

Das, was einem Down-Syndrom-Kind an Eigenschaften fehlt, wird vielfach ausgeglichen durch das, was es anderen voraus hat: eine besonders stark ausgeprägte Schwingungsfähigkeit, vitale Lebensfreude, sonnige Strahlkraft, ein herzensgutes Gemüt und große Vertrauensseligkeit.

Die Seele eines Down-Syndrom-Menschen ist durch die Einfachheit und Geradlinigkeit seines Wesens vor den übermäßigen Leistungsanforderungen und komplizierten erzieherischen Bestrebungen geschützt, denen intelligentere Kinder ausgesetzt sind.

Zumindest in unserer Gesellschaft ist es so, dass der Downie in einem geschützten Rahmen leben darf und in den Genuss zahlreicher Förderangebote kommt. Auch existiert eine starke Eltern-Lobby, was darauf schließen lässt, dass es viele Menschen gibt, welche die besondere Qualität gerade dieser Behinderung zu schätzen wissen.

Von den geschützten zu den ungeschützten Kindern führt nur ein kurzer Weg:

In den öffentlichen Medien ist heutzutage häufig von Kindesmissbrauch die Rede. Kinderpornographie im Internet, sexueller Missbrauch von Kindern durch Geistliche und andere Erziehungspersonen, spektakuläre Einzelfälle: die schockierende Berichterstattung über diese Auswüchse der Misshandlung von Kindern nimmt kein Ende und jedermann ist empört über solche Entgleisungen erwachsener Triebhaftigkeit. Dabei sind diese Scheußlichkeiten nur die Spitze des Eisberges. Die Misshandlung eines Kindes beginnt nicht erst mit dem aktiven Vergehen an diesem, sondern viel früher. Schon die Schaffung einer lieblosen, gleichgültigen oder gewalttätigen Atmosphäre im elterlichen Millieu stellt einen Übergriff auf die kindliche Seele dar.

Ein Erwachsener, der seinem Kind ein schlechtes Vorbild ist, weil er sein Leben und seine Probleme nicht im Griff hat, misshandelt ein Kind zwar weniger verbrecherisch wie einer, der sich direkt an einem Kind vergeht, aber er fügt ihm gleichermaßen großen Schaden zu.

Die Kinder sind unsere Zukunft, sagt man. Nach allem, was bisher gesagt worden ist, sieht diese Zukunft düster aus: Derart beschädigte, in ihrer natürlichen Entwicklung gehemmte und verbogene Kinder mögen sich zwar nahtlos in die sozialen Mechanismen einer auf Egozentrik und gegenseitiger Ausbeutung basierenden, spätkapitalistischen Gesellschaftsordnung einfügen. Ihr verkümmertes kreatives Potential, ihr verlorener Respekt vor der Schöpfung alles Lebendigen, das Fehlen einer Einbettung in natürliche und kosmische Rhythmen, all diese Mangelerscheinungen werden es jedoch nicht erlauben, dass die aktuell anstehenden Menschheitsthemen wie Erderwärmung, Klimawandel, Atommüll, Massentierhaltung, Energiegewinnung, Produktion natürlicher Nahrungsmittel etc. von ihnen in Angriff genommen, geschweige denn gelöst werden.

Aus den ehemaligen Opfern werden Täter werden, die das, was man ihnen angetan hat, gewohnheitshalber und unreflektiert fortsetzen - solange die Lebensbedingungen auf der Erde das noch erlauben.

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